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  Kölner Stadtanzeiger
Moderne Zeiten, 3/4 Februar 2001


Von der »Dienststelle Marienthal« zur »Blanken Röhre"

Von Susanne Boecker

"Man sieht nur, was man weiss.« Wirklich? Es gibt Dinge, die weiss man, aber man sieht sie nicht. Wie man sie nicht sehen soll. Oder weil man sie nicht sehen kann. Zu solchen gewussten, aber ungesehenen Objekten gehört die ominöse »Dienststelle Marienthal«. Jener geheimnisumwobene Bunker im Ahrtal, der im »Ernstfall« als »Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes«, kurz AdVB, die Regierbarkeit der Republik sicherstellen sollte. 3000 Personen sollten hier 30 Tage lang überleben können und in absoluter Abgeschlossenheit »die Handlungsfähigkeit der Staatsspitze« gewährleisten - auch im Falle eines atomaren Totalangriffs. Diese heute geradezu naiv erscheinende Vorstellung basierte auf der seinerzeit nur von den wenigsten hinterfragten Logik des »Kalten Krieges«, zudem gab es entsprechende Vorschriften der NATO. So wurde die riesige Stollenanlage unter den Weinbergen zwischen 1962 und 1972 - mit bundesdeutscher Gründlichkeit und unter strengster Geheimhaltung - in zwei Phasen zu »einem der sichersten Orte der Welt« ausgebaut. 180 Handwerker, zur Garantie ihrer absoluten Verschwiegenheit verbeamtet, sorgten rund um die Uhr für die reibungslose Funktionsfähigkeit der Anlage. In regelmässigen Abständen bezogen Abgeordnete und Beamte einige der spartanisch eingerichteten Räume und probten die Notstandsverwaltung des Landes in Kriegszeiten. Auch diese erhielten die Auflage, nicht einmal ihren Ehepartnern über das Geschehen unter Tage zu berichten...

Gleichwohl blieb die Geheimsache doch nicht so geheim wie gewünscht. Ende der 80er Jahre gab es öffentliche Proteste gegen eine Politik, die augenscheinlich nur ihr eigenes Wohlergehen im Auge hatte, nicht aber das Schicksal der Gesamtbevölkerung. »Was passiert mit uns in Krisen- und Kriegszeiten?« prangerten Demonstranten das in ihren Augen elitäre Sicherheitsgebaren der Bundesregierung an. Diese beharrte gleichwohl auf der Geheimhaltung ihrer 25km südlich von Bonn gelegenen »Dienststelle Marienthal« und würde dies wohl bis heute tun, wenn nicht zwischenzeitlich die »Bedrohung aus dem Osten ersatzlos entfallen« und damit der Krisenfall immer unwahrscheinlicher geworden wäre. Gegenläufig zu dieser aussenpolitischen Entspannung entwickelte sich, insbesondere nach der Deutschen Wiedervereinigung, die Finanzsituation des Bundes. Als Mitte der 90er Jahre neue Brandschutzvorschriften Investitionen von 80 Millionen Mark erfordern sollten, begann man ernsthaft über die Zukunft der Anlage nachzudenken. Am 8. Dezember 1997 fasste das Bundeskabinett den Beschluss, den »bisherigen Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes aufzugeben«.

Was leichter gesagt als getan war. Was sollte man schliesslich mit dem riesigen Stollenbauwerk anfangen? Man bot das Ganze zum Verkauf an. Verschiedenste Nutzungsmöglichkeiten touristischer, gewerblicher oder auch wissenschaftlicher Natur wurden in Erwägung gezogen - darunter natürlich auch die sprichwörtliche »Champignonzucht«... Die Zahl der Interessenten hielt sich indes in Grenzen. Selbst der in ausgefallener Erlebnis-Gastronomie erfahrene Holländer Hennie van der Most, Betreiber des erfolgreichen »Kernwasser-Wunderlandes« im stillgelegten Schnellen Brüter in Kalkar, gab seine Pläne zum Bau eines Hotels und Kongresszentrums angesichts der hohen Bauauflagen und der Verpflichtung, im Falle eines Scheiterns die Anlage auf eigene Kosten zurückzubauen und zu schliessen, auf. Daraufhin entschied man sich zur Radikalkur »Rückbau bis zur blanken Röhre«. Rund 60 Millionen Mark wird es kosten, die Stollen in einen umwelttechnisch unbedenklichen Zustand zu versetzen. Dazu müssen u.a. 580 Kilometer Kabel und 480.000 Quadratmeter Wandfarbe entfernt werden. Allein die Verschlusselemente der Anlage verursachen rund 800 Tonnen Abbruchmaterial... Wenn alles rausgeschafft ist, werden sich die Röhren mit Bergwasser füllen; aus dem Notrefugium der Regierung wird dann eine gigantische Drainage: Die Natur nimmt ihren Lauf.

Damit wird die in der Bundesrepublik einzigartige Architektur der »Dienststelle Marienthal«, deren Funktion sich allein in ihrer undenkbaren Potenzalität erfüllte, definitiv dem Vergessen anheim gegeben. Die von Anfang an eingeplante Unsichtbarkeit des Gebäudes erfährt mit dieser Rückbaumassnahme ihre ultimative Steigerung - was wohl ganz im Sinne der Bundesregierung ist, die offenbar kein Interesse daran hat, die in den Schieferbergen des Ahrtales verborgenen Verhältnisse - und sei es nur im nachhinein - publik und transparent zu machen. Übrig bleibt wohl nur noch ein »Gebäude-Monument« der anderen Art: ein Fotoband. Angeregt von den Schriften des französischen Philosophen und »Bunkerspezialisten« Paul Virilio, wagte es der Aachener Fotograf Andreas Magdanz, sich der gigantischen architektonischen Negation zu stellen. Ihn faszinierte auch die Geschichte dieses Stollenanlage, die auf das Jahr 1910 zurückgeht, als im Ahrtal mit dem Bau einer neuen Eisenbahnlinie begonnen wurde. Bereits damals militärisch motiviert, sollten über die neue Strecke, zu der auch ein längerer Tunnel gehörte, im Kriegsfall möglichst schnell Truppen, Geräte und Nachschub ins Richtung Frankreich transportiert werden können. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde an dem Tunnel weitergebaut. Von den Franzosen gesprengt und unpassierbar gemacht, dienten die Reste der Anlage im Zweiten Weltkrieg der Waffenherstellung. Geschützt vor Luftangriffen montierten hier Zwangsarbeiter V1- und V2-Raketen... Sieben Monate lang arbeitete Andreas Magdanz im westlichen Teil der Bunkeranlage, machte 1000 »konzentrierte Bilder«, von denen schliesslich 100 in die aufwändige, im Selbstverlag herausgegebene Publikation aufgenommen wurden. Der Fotograf plädiert für den Erhalt - zumindest eines Teiles der Anlage - als Museum. Neben dem zeitgeschichtlichen Aspekt, zu dem auch die bis heute andauernde Verleugnung der Anlage durch Politiker gehört (der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz beispielsweise bestreitet entgegen den Tatsachen, je dort gewesen zu sein), gilt ihm die Anlage auch als bedeutendes Monument der Technik-Geschichte des deutschen Perfektionismus. Gleichwohl - die Entscheidung über den Rückbau ist wohl endgültig. Und so bleibt vielleicht wirklich nur die Fotografie des »Gasmaskenprüfgerätes« als ultimatives Sinnbild einer gnadenlos durchexerzierten Auslieferung an die Eigendynamik atomarer Kriegsführung.

Das Besondere, das Magdanz’ Gebäude-Monographie von anderen Fotobänden über Architektur unterscheidet, liegt in der prinzipiellen Nicht-Darstellbarkeit des Gegenstandes begründet. Geht es hier doch um die Dokumentation einer baulichen Realität, deren Vorhandensein auf ihrer Unsichtbarkeit beruht und deren Vorstellbarkeit - allen realen Gegebenheiten zum Trotz - nicht einlösbar ist. Selbst wenn man vor Ort ist, mit einem Elektrowagen Hunderte von Gangmetern abfährt, an unzähligen »Bürotüren« vorbei, wenn man ansatzweise ein paar Gänge abschreitet, an denen sich Schlafraum an Schlafraum reiht, architektonisch unterbrochen von einer Grosskantine oder einer »Kommandozentrale«, vermag man sich die realen Dimensionen des Atomschutzstollens nicht vorzustellen. Die Information, man befände sich in einem von »fünf autarken Bauteilen« klingt abstrakt. Man nimmt sie zur Kenntnis, ohne sie gedanklich fassen zu können. Man überwindet 60m tiefe Aufzugschächte, blickt in 450m lange Stollen - fassungslos ob der Unfassbarkeit dieser architektonischen Anlage. Auch die »Fakten« helfen da nicht weiter: 19km Gangsystem, Nutzfläche unter Tage 83.000 Quadratmeter, 38 Verbindungsschächte, Notausgänge und Notausstiege, 897 Büro- und Konferenzräume, 936 Schlafräume, fünf Grosskantinen, fünf Kommandozentralen, zwei Fahrradabstellhallen, eine Druckerei, ein Friseursalon, Fernsehstudio... Hinzu kommen die technischen Anlagen - von den monumentalen Zuluftbauwerken über die Wasseraufbereitungsanlagen bis zu den riesigen Sandfiltern zur Reinigung atomar verseuchter Luft etc. Das Ganze zu verschliessen durch insgesamt 25.000 Türen, darunter tonnenschwere Deckel, die in Millisekunden zuschnappen und den Stollen hermetisch abriegeln können. 180 Mitarbeiter hielten in drei Schichten gesamte die Anlage rund um die Uhr nach einem ausgetüftelten Wartungsplan in Schuss und probten beispielsweise jeden Montag das »Generalschliesskommando«.

Und jetzt? Von den ehemals 180 Beschäftigten sind noch 15 Leute übriggeblieben, unerlässlich für die Kontrolle der Lüftungsanlagen und anderer Einrichtungen, deren Betrieb »bis zuletzt« aufrecht erhalten werden muss. Mancher von ihnen arbeitet seit den 60er Jahren hier, war seinerzeit am Aufbau beteiligt, um dann Jahrzehnte lang im Untergrund seinen geheimen Dienst zu tun, gewissenhaft den reibungslosen Ablauf der technischen Einrichtungen zu kontrollieren. Wobei »an den Ernstfall natürlich überhaupt keiner denken durfte, denn nach 30 Tagen war ja eh alles vorbei«. Gleichwohl - fundamentale Zweifel an ihrer Arbeit hatten die wenigsten. Warum auch? Sie hatten einen krisenfesten Job, und das gemeinschaftliche Wirken an der Sache schweisste zusammen. Jetzt müssen sie die Demontage ihres »Lebenswerks« mit ansehen: »Die gesamte Arbeit, die wir gemacht haben, wird jetzt zerstört.« Stück für Stück wird der Bunker entkernt. Bis auf die Bundeskanzlerpritsche - eine spartanische Bettstatt, mit deren Ausmassen Helmut Kohl seine Probleme gehabt hätte - sind bereits alle Betten abtransportiert. Auch Tische und Stühle gibt es nicht mehr. Die Telefone, jene typischen hellgrauen Modelle der Deutschen Post, stehen Containerweise zur Abholung bereit, von dem Rohrpostsystem sind nur noch ein paar Löcher übrig. Noch stehen in den Kantinen die grossen Kessel, Schwierigkeiten bereitet auch der Abbau der grossen Kartenwände - doch auch die werden verschwinden. Und die in jedem Bauteil vorhandenen öffentlichen Münzfernsprecher wurden inzwischen von der Deutschen Telekom »mangels Umsatz« abgebaut. Die »Dienststelle Marienthal« hat ausgedient. »Einer der sichersten Orte der Welt« - nie war er so überflüssig wie heute.
 
 
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