AKTUELLES ZUM PROJEKT STAMMHEIM


Was meinen Sie, wer uns alles besuchen möchte? Fernsehteams zum Beispiel, um für einen Krimi mit der Kamera kurz durch einen der Zellengänge zu fahren. Die Knast-Szene spielt dann zwar nicht in Stamm-, sondern Stadelheim – aber im Abspann soll »Stammheim« stehen, das Gruselwort.

Kurt Oesterle, Stammheim (2003)


Stammheim existiert in der Anschauung nicht. Vielmehr evoziert die Nennung des Stuttgarter Vortortes auch dreissig Jahre nach dem sog. Heissen Herbst im kollektiven Gedächtnis unweigerlich eine metaphorische Vorstellung, die für das »Furchtsyndrom der Zeit« (Hans Jürgen Kerner) steht. Seit langem ist die bildhafte Realität von Stammheim einzementiert und von einer medialen RAF-Erinnerungskultur überlagert, die in Malerei (Gerhard Richter), in der Fotografie (Astrid Proll), im Film (Bernd Eichinger) und im Fernsehen (Heinrich Breloer) eine nationale Rückvergewisserung zu zelebrieren sucht. Der retrospektive Blick, der zwangsweise ein verzerrender sein muss, wenn er mit dem naiven Anspruch der Rekonstruktion einhergeht, prägt bis heute den Umgang mit »Stammheim«. Als Realität bezeichnet Stammheim demnach eine Leerstelle, die weiterhin für mythisches Denken anfällig ist. »Stammheim vergessen« übertitelte der Journalist Oliver Tolmein eine Publikation über »Deutschlands Aufbruch und die RAF«. Auch das ist ein frommer und vergeblicher Wunsch.


Wie leben eigentlich die Häftlinge in Stammheim? In dem TV-Zweiteiler »Todesspiel« richtet ein Schauspieler, der Bundeskanzler Helmut Schmidt spielt, diese Frage an einen Schauspieler, der den Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold spielt. Die Frage scheint weiterhin virulent, zumal sie eigenwillig im Präsenz verharrt. Gegenfrage: Ist sie für das Jahr 2009 zu beantworten? Mit gebotener Sachlichkeit berichtet die Internetnetseite der Justizvollzugsanstalt Stammheim, dass die JVA derzeit 877 Inhaftierte aufnehmen kann. Ein Bild entsteht nicht.



Das Projekt »Justizvollzugsanstalt Stammheim«

Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart wurde im Stadtteil Stammheim, dem nördlichsten Stadtbezirk von Stuttgart, in den Jahren 1959 - 1963 erbaut und 1964 in Betrieb genommen.
Das Gefängnis wurde nach den damals modernsten Erkenntnissen der Sicherheit erbaut und bestand aus drei Gebäudekomplexen, aufgeteilt in einen Vollzugsbereich, der Verwaltung und dem Werkstattbereich; der eingefriedete Bereich umschliesst ein Gelände von 49.600 qm. Über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde die JVA Stammheim durch die Inhaftierung der RAF-Führung; für den Prozess gegen die Mitglieder der Rote-Armee-Fraktion wurde 1975 eigens ein besonders gesichertes Mehrzweckgebäude erstellt….

http://www.jva-stuttgart.de

Ausgangspunkt des fotokünstlerischen Projekts »Justizvollzugsanstalt Stammheim« ist die Tatsache, dass mit dem geplanten Abbruch des Staatsgefängnisses im Jahr 2012 die konkrete Örtlichkeit »Stammheim«, die mit den historischen Ereignissen von 1977 verbunden ist, unwiderruflich zerstört werden wird. Folglich wird die Möglichkeit einer visuellen Anschauung der historisch überladenen Stätte des RAF-Mythos ab jenem Zeitpunkt nicht mehr gegeben sein. Aus diesem Leitgedanken leitet sich das Ziel des Projekts ab.

Ziel des Projekts »Justizvollzusanstalt Stammheim« ist eine umfassende Bilddokumentation des Gebäudes im Medium der Grossformatfotografie.
In einem ersten Schritt dient eine erschöpfende bilddokumentarische Erfassung dazu, den derzeitigen Zustand des Gebäudeareals und seiner jetzigen funktionalen Kompartimente als visuelles »Quellenmaterial« für zukünftige Generationen überhaupt erst fass- und nutzbar zu machen. Mit einer fotografischen Bestandsaufnahme, die zugleich ein differenziertes und wirklichkeitsgerechtes Bild der Anlage im Zustand des Jahres 2009/2010 zeichnet, soll gezielt eine zukünftige kollektive Erinnerungslücke geschlossen werden.

Analog zu meinen bisher realisierten Projekten »Dienststelle Marienthal« und »BND Standort Pullach«, die sich ebenfalls historisch belasteten Ortschaften der Bundesrepublik Deutschland gewidmet haben, soll die Projektrealisierung in Form einer Gebäudemonografie erfolgen, die die gegenwärtige Funktion der verschiedenen Raumareale gezielt aus einer Perspektive der Gegenwart in Augenschein nimmt.

Die Grossformatfotografie

Wie kein anderes Medium ist für eine Bilddokumentation die Grossformatfotografie geeignet, die komplexe RAF-Thematik auf visueller Ebene vor Ort aufzugreifen und zu verdichten. Ihre spezifische Qualität bringt der Medientheoretiker Peter Weibel zum Ausdruck: »Das [fotografische, d. Verf.] Grossbild richtet die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung selbst. Wir werden gewahr, dass wir wahrnehmen. Durch diese Beobachtung zweiter Ordnung, diese Beobachtung der Beobachtung, entsteht erhöhte, intensivierte, multiplizierte Aufmerksamkeit.“ Die genannte Wahrnehmungskonzentration, die mit Blick auf den Betrachter stets auch einen reflexiven Charakter aufweist, vermittelt in Abhebung zu den bislang existierenden RAF-Fotografien eine privilegierte Perspektive, die das Gesehene abseits von noch vorherrschenden polarisierenden Betrachtungs- und Wertungsstrukturen ins Visier nimmt.

Über das Einzelbild hinaus soll in einem weiteren Schritt ein transparenter inhaltlicher Aufbau des Projekts einen vertiefenden Reflektionsrahmen zu dem geschichtsbelasteten Standort ermöglichen. Die inhaltliche Gliederung der Arbeit »Justizvollzugsanstalt Stammheim« resultiert aus der Form einer Begehung, die die spezifischen funktionalen und architektonischen Parameter des Gefängnisareals für den Betrachter erkennbar werden lässt. Die bildkünstlerische Strategie richtet sich hierbei nach dem Faktor der Transparenz, der im Falle von »Stammheim« immer auch einen entmythologisierenden Charakter und eine dialektische Stossrichtung aufweist. Kollektiv imaginierte Bilder stehen in plötzlicher Opposition zu betont nüchtern-sachlichen Aufnahmen des Jahres 2009/2010, die zugleich sichtbar machen, was sie eben nicht zeigen: »Stammheim«.

Christoph Schaden
 
 
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